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Dogville

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Dogville Dietmar Kesten 25.10.03 15:02

DOGVILLE

WER IMMER STREBEND SICH BEMÜHT, DEN KÖNNEN WIR ERLÖSEN?

von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 25. OKTOBER 2003.

Dogville ist eine kleine Gemeinde in den Rocky Mountains. Auf der Flucht
vor ihren Peinigern taucht dort eines Tages eine Frau auf. Ihr gewährt man
trotz anfänglichen Zögerns Asyl. Das Leben in dieser Gemeinschaft muss
sie sich allerdings durch permanente Zugeständnisse an ihr eigenes Leben
und das ihrer Mitbewohner ständig durch jegliche Art von Verdinglichung
erkaufen.
Selbst der Mann, der sie liebt, hält nur anfangs diesem Druck stand, am Ende
ist es auch er, der sie fallen lässt und nicht bereit ist, sich dem Widerstand
der Peiniger zu entziehen.
Schließlich wird das Auftauchen der Gangster zur wahrhaften Erlösung für
die junge Frau, die sich in einem Verzweifelungsakt gegen Unterdrückung
und Ausbeutung dem Grauen auf ihre Art entzieht.
Das Drama, besser, eine Passionsgeschichte, die Lars von TRIER
(„Breaking the Waves”, 1996, “Idioten” 1998, “Dancer In The Dark”, 2000)
mit einer dreistündigen Theateraufführung dem Publikum und den
Kinobesuchern vorlegt, darf durchaus als Experiment bezeichnet werden.

Der Film „Dogville“ ist Kino im Kino und filmisch vermittelt, eine
Theateraufführung im Kino, ein Theater im Kino, der in bester Tradition
des epischen Theaters eines Bertold BRECHT spielt, und vielleicht
sogar mit den literarischen Verfremdungen eines Franz KAFKA
(etwa „Der Prozeß“) zu vergleichen ist.
Die Kameraarbeit von Anthony Dod MANTLE und die ausgezeichneten
Montagen, tragen dazu bei, die bisher bekannten Grenzen des Kinos
neu zu überdenken, und sich zu fragen, ob sich hier nicht seine
Zukunft in einer doch mehr und mehr untergehenden Theaterwelt
niederschlägt?
Erzählt wird in diesem Kinostück die Geschichte von
Grace (Nicole KIDMAN), die in einer imaginären Stadt im Maßstab 1:1,
bestehend aus Kreidestrichen, die Häuser, Wohnungen, Grünflächen
Straßen und Möbel, selbst den Dorfhund markieren, dazu lediglich
bestückt mit einigen Requisiten und Geräuschen, die dem Dorf das
notwendige Ambiente verleihen, untertaucht.

In dieser fiktiven Stadt geht es eigentlich um all das, was die menschliche
Gesellschaft ausmacht und „Dogville“ zeigt die Grenzen der menschlichen
Gemeinschaft auf, die sicherlich schon oft erzählt wurde, aber vermutlich
noch nie so eindringlich.
Die Stadt ist wie ‚Seahaven’ aus der „Truman Show“ (Regie: Peter WEIR,
1998) der klassische Traum Amerikas.
Im ersten Augenblick mag man sich mit den aufgesetzten Ethiken
nicht zurechtfinden; denn der Dualismus der Bilder spiegelt die Wirklichkeit
fein säuberlich voneinander abgegrenzt in postmodernen kleinbürgerlichen
Sentimentalitäten wider, die den unverfälschten Menschen zeigen; eben
die lebendige Gegenwart und die dazugehörenden Ereignisse.
Das menschliche Leben ist eine Einrichtung nebst Fakten, die es nicht nur
in „Dogville“, sondern überall auf der Welt gibt. So zeigt das Drama
bekannte und unbekannte surreale Bilder.
Grace scheint in dieser Stadt sicher; denn Tom Edison (Paul BETTANY jr.)
bringt sie vor den Gangstern in Sicherheit und führt sie in Dorfgemeinschaft
ein.
Augenlust entsteht, die Bilder kriechen hinterher, Verängstigungen
machen sich breit, die sich in kommenden Zukunftsvisionen
niederschlagen werden. Doch Grace darf zunächst bleiben, verdingt
sich und bietet als Gegenleistung dem Dorf ihre Dienste an.
Diese will man zunächst nicht, doch ihr beharren und die Fürsprache
Toms führen schließlich dazu, das man einwilligt. Das Erschreckende und Beklemmende, die eigentliche Symphonie des Schreckens beginnt
bereits kurz darauf, als sie mit den Lebenslügen des Dorfes konfrontiert
wird.
Das Chiffre-Dasein in dieser Welt verkörpern diese Einwohner bestens:
es sind die Verkümmerungsformen des menschlichen Lebens in der Moderne,
die Verrohung, die allgegenwärtig ist, das Gegenwärtige,
von dem der Philosoph Günther ANDERS einmal
gesagt hat, dass es nicht mehr möglich ist, „dessen Vergänglichkeit
zu widerrufen“ und dass wir uns bereits in einer Zeit „außerhalb der
Gegenwart“ (G. ANDERS: Die Antiquiertheit des Menschen) befinden.

Nach einer kurzen Zeit des Lebens in „Dogville“, wird Grace von der
einen auf die andere Sekunde mit der Realität konfrontiert.
Ein Polizist macht ihre Vergangenheit durch Steckbriefe publik und
enttarnt sie als Verbrecherin.
Die Dorfbewohner, die sie vorher ausbeuteten, leben nun auch ihr
Individuelles Interesse an ihr aus. Sie wird erniedrigt, beleidigt
und schließlich von den männlichen Dorfbewohnern vergewaltigt.
Grace erduldet diese Schmach mit beneidenswerter Geduld. Doch
irgendwann reißt diese Phase jäh ab. Sie schmiedet mit Tom einen Plan
aus dieser Stadt zu fliehen. Ein LKW-Fahrer wird
hinzugezogen, der jedoch auch nur sexuelle Motive hat.
Er bringt sie in die Stadt zurück, und sie muss fortan nun zur Strafe
und zur Demütigung ein Hundehalsband mit Glocke tragen, wird
an ein eisernes Wagenrad geschmiedet, das dem Dorf ihren momentanen
Aufenthalt signalisiert.
Tom, der Möchtegernintellektuelle und verhinderter Schriftsteller
informiert die Gangster über den Aufenthaltsort von Grace.
Jede Flucht scheint somit im Keim erstickt. Die Gangster fahren vor
und das Drama im Drama endet mit Überraschungen und
todbringender Apokalyptik.
Der ‚Boss’ der Gangster ist Graces Vater, mit dem sie eine Diskussion
über Schuld, Vergebung, Vergeltung, Rache und Macht führt.
Die scheinbar geläuterte Grace entschließt sich zur blutigen Rache
an ihren Peinigern. Das Dorf wird niedergebrannt, die Dorfbewohner
massakriert, schließlich bringt sie Tom eigenhändig um.

Interpretiert man dieses Stück als ethisches Stück, dann ist
„Dogville“ streng genommen ein Teil unserer alltäglichen
Wahrnehmungswelt, die Verdichtung des menschlichen Lebens mit
all seinen Neigungen, Facetten und Abartigkeiten.
Fiktives und Wirkliches werden nicht gegenübergestellt, sondern real
erzählt; denn die wirklichen Teilnehmer dieser Geschichte
sind wir als Gefangene unserer eigenen Dummheit und Skrupellosigkeiten.
Ist es die Unverwechselbarkeit des Furchtbaren? Ist das Leben nur
ein Traum?
MARX sagte einmal: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden
Interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“
Das, was Grace versucht, ist sicherlich ein Beitrag dazu, der ernst zu
nehmen ist, weil man gegen das Schicksal kämpft um zu überleben.
Doch selbst in der tiefsten Abscheu, die sie erlebt, bittet sie noch
um Vergebung und Gnade. Die Veränderungen, die sie mitmacht,
entpuppen sich doch letztlich nur als Illusionen, die wie ein Bumerang
in die Geschichte geschleudert, als Katapult des Verderbens
wiederkommen.
Wo nur das Schicksal übrigbleibt, dort gibt es nur die Tragödie, die
Obsession des Warenmenschen, wo nur noch Trauer und Verzweifelung
spricht, ein Unheil nach dem nächsten angekündigt wird.
Doch in diesen Momenten zeigt Grace mit ihrem Hang zur Nächstenliebe,
dass sie ohne gestrickte Dramaturgie auskommt, da das menschliche
Leben Dramaturgie ist, eben die Präzision im Unterdrückungsbetrieb
des modernen Kapitalismus, wo die Untertöne der Melancholie wie
das Wetter sind, die Gefühle und Stimmungen, die gestreut werden,
sich dem Abgrund nähern.

„Dogville“ hat die Ebene der Abstraktion längst verlassen.
Das ‚Herr Knecht Verhältnis’ und die sich dort spiegelnde Auflösung
ist die Suche nach der Wahrhaftigkeit des Lebendigen in uns und
im Leben. Grace will dem Vergessensdrama um Schuld und Sühne endlich
ein Ende zu bereiten, es einholen und zu bewahren: in den
zwischenmenschlichen Dimensionen, in den biografischen
Zufällen. Doch sie scheitert in ihrem Drang, dem Leben die positiven
Töne abzugewinnen, dem kranken Denken ins uns, dem
Identitätsbruch zu begegnen.
Zwar ist sie keine ‚Ruferin in der Wüste’, sondern ein Teil der
Courage, die uns fehlt.
Sie sitzt nicht selbstgefällig im Lehnstuhl und erteilt Ratschläge,
kommentiert oder begutachtet. Grace verkörpert die Tragödie
der Menschheitsgeschichte, gefangen im globalen
Herrschaftssystem, gefangen im ökonomischen Terror der Barbarei
und der ständigen Bedrohung durch die Gigantomanie der modernen
Ware, deren Grausamkeit, das ist das eigentliche Phänomen
dieses Kinos, die Ursache schlechthin für all die Scheußlichkeiten, mit
denen die Menschen ihr Tagwerk verrichten, ist. Der Schriftsteller
Samuel BECKET(„Warten auf Godot“) hätte sich hier einmal mehr
wiedergefunden.
Aus einer tiefen Sehnsucht zur Spezies Mensch wird die totale
Erniedrigung ihres eigenen Lebens im Geld-Ware-System.

Das ‚Gute’ im Menschen, an das Grace glaubt, ist doch nur ein
Mythos. Und wenn sich im Plot der dialektische Antagonismus
zeigt, dann ist das nur ein Hinweis darauf, was GOETHE einst
Mephisto hat sagen lassen:
„Du bist am Ende- was du bist.
Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,
setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken,
Du bleibst doch immer, was du bist.“

Dem kann man sich nicht entziehen. Das brutale Filmende ist
dann nur ein Zeichen dafür, wie in der heutigen Gesellschaft
alle Krisen gelöst werden: nämlich mit brutaler Gewalt.
Man hat Lars von TRIER nachgesagt, er würde sich hier der
alttestamentlichen Weissagen von ‚Auge um Auge, Zahn um
Zahn’ nähern.
Das wäre dann auch keine unbedingte Nähe zum christlichen
Dogma, da dieses schon längst in sich vom Klerus selbst
durch Glaubenskriege in der Vergangenheit aufgehoben wurde.
Wer sich daran stoßen mag, der findet sich in einer Sackgasse
wieder, die nur signalisiert, dass diese Opferbereitschaft
ein Teil der Gier und der Selbstgerechtigkeit des Individuums ist,
das sich durch die Jahrtausende zieht.
Lars von TRIER setzt auf die Vorstellungskraft der Filmbesucher.
Das erfordert angestrengtes Engagement im Kino.
Und in der Nacharbeit fällt es einem buchstäblich aus dem Kopf:
die Dämmerung hat längst begonnen. Wir stehen ratlos vor der
großen Mauer des Vergessens.

Nicole KIDMAN war selten so gut.
Sie liefert die beste Rolle ab, die sie je spielte.
Nach „Eyes Wide Shut“ (Regie: Stanley KUBRICK, 1999,
„Moulin Rouge“ (Regie: Baz LUHRMANN, 2001,
„The Others“ (Regie: Alejandro AMENABAR, 2002) und
„The Hours“ (Regie: Stephen DALDRY, 2002) offeriert sie dem
Publikum einen Einblick in ihre große schauspielerische Kunst.
Erstmalig beweist sie ihre Gabe für die völlige Unterordnung unter
ein Ensemble, in dem sie nicht unbedingt die Hauptrolle spielt.
Alle anderen agierenden Personen, etwa Paul BETTANY,
Katrin CARTLIDGE oder Jeremy DAVIES, stehen ihr in nichts
nach.
In diesem Stück sind alle famos, doch KIDMAN als Verkörperung
der Grace hebt ihre bisherigen Filme durch dieses Bühnenstück im Kino
gekonnt auf und lebt von ihrer Kraft und Ausstrahlung, mit der
sie diese Rolle interpretiert.

Fazit: Wer diesem Kinostück als Experiment begegnen will,
für den ist der Film sicherlich das Highlight des Jahres.
Allerdings erfordert er angestrengte Aufmerksamkeit und
philosophisches Einfühlungsvermögen, was nicht jedermanns
Sache ist. „Dogville“ ist gewagtes Kino, voll mit Resignationen,
Tragödien, Untergänge, vibrierenden Bekenntnissen, Qual und
Mordlust: jeder Zoom ein Todesurteil für die Spezies Mensch.
Doch man kann nur gewinnen, weil immer nur der Augenblick
zählt.

Dietmar Kesten 25.10.03 15:02